Das letzte Geheimnis

Stand George Leigh Mallory schon 29 Jahre vor Hillary und Norgay auf dem Gipfel des Everest? Seine Leiche wurde 1999 gefunden, doch das Rätsel blieb ungelöst

Mit Tweedjacke, Wickelgamaschen, Nagelschuhen und einer sperrigen, zwölf Kilogramm schweren Sauerstoffapparatur auf den Mount Everest? Aus heutiger Sicht ist kaum vorstellbar, dass Menschen mit einer solchen Ausrüstung jemals den Gipfel erreichen. Doch den Engländern George Leigh Mallory und Andrew "Sandy" Irvine könnte es gelungen sein. Seit die beiden Engländer 1924 auf dem Weg zum Gipfel verschwanden, befassen Historiker und Bergsteiger sich mit der einen brennenden Frage: Haben sie schon 29 Jahre vor Edmund Hillary und Tensing Norgay auf dem höchsten Punkt der Erde gestanden und sind erst beim Abstieg umgekommen? Obwohl vieles dagegen spricht, wurden letzte Zweifel auch von den jüngsten aufwändigen Expeditionen nicht ausgeräumt.
8. Juni, 1924, 12.50 Uhr: Noel Odell, Bergsteiger und Mitglied einer britischen Everest-Expedition, beobachtet durch ein Wolkenloch zwei schwarze Punkte, die sich über eine Felsstufe hinweg zur Gipfel-Pyramide vorarbeiten. Odell hat keine Zweifel: Die Punkte sind Mallory und Irvine. Er sieht noch, wie der erste Punkt in zügigem Tempo an der Spitze der Stufe erscheint, ehe der Nebel die Szenerie und die Bergsteiger für immer verschluckt und damit einen Mythos schafft. 

Gebrochenes Wadenbein

75 Jahre später, 1. Mai 1999: Eine von dem deutschen Geologen und Everest-Historiker Jochen Hemmleb mit vorbereitete Such-Expedition macht in etwa 8200 Meter Höhe auf der Nordflanke des Everest einen sensationellen Fund. Conrad Anker, einer der besten Bergsteiger und Felskletterer, entdeckt auf einer Schneeterrasse "einen schmalen weißen Streifen". Kurze Zeit später steht er vor einer Leiche, die im Gegensatz zu einem halben Dutzend anderer toter Bergsteiger in der näheren Umgebung schon sehr lange dort gelegen haben muss. Der Tote liegt auf dem Bauch, den Rücken entblößt, den Kopf mit dem Gesicht in den Boden vergraben. Die Arme sind nach oben gestreckt, die Hände ins Geröll gekrallt - der letzte verzweifelte Versuch, einen Sturz abzubremsen? Um Taille und Schulter ist ein gerissenes Seil geschlungen, Schien- und Wadenbein sind gebrochen.
Was keiner von den Expeditionsteilnehmern zu träumen gewagt hätte, wird Gewissheit. Sie stehen vor einem der Verschollenen. Die erste Vermutung: Sandy Irvine. Hauptsächlich ihm galt die akribisch vorbereitete Suchaktion. Irvines Eispickel war 1933 in der nach oben verlängerten Falllinie der Leiche unter dem Kamm des Nordostgrats gefunden worden. Man hoffte also, Irvine zu entdecken und dadurch den Verbleib Mallorys aufklären zu können.

"Oh my God!"

Anker nestelt an der Kleidung des Toten - und dann ringt er vor Überraschung um Fassung: Der Tote ist nicht Irvine, es ist Mallory. In seinem Hemdkragen sind die Initialen G.L.M eingestickt - George Leigh Mallory. "Oh my God!" rufen die Kollegen, als Anker sie herbeiwinkt. Alle sind aufgeregt. Ein Brief von seiner Ehefrau Ruth in einer Seitentasche beseitigt die letzten Zweifel. Dort stecken auch eine Schneebrille, ein Taschenmesser und ein Höhenmesser. Mallorys Armbanduhr hat keine Zeiger mehr. Rostspuren deuten darauf hin, dass die Uhr um 5.10 Uhr stehen geblieben ist. Morgens oder nachmittags?
Die Zeit und die Schwierigkeiten, mit denen Mallory und Irvine auf ihrem Weg über den Nordostgrat zu kämpfen hatten, sind die entscheidenden Faktoren bei der Experten-Diskussion, ob sie den Gipfel erreicht haben. Odell erinnerte sich später: "Ich wunderte mich, Mallory und Irvine erst jetzt, um 12.50 Uhr, an dieser Stelle zu erblicken." Sie waren spät, sehr spät dran. Odell glaubte zunächst, die schwarzen Punkte am so genannten Second Step gesehen zu haben. 
Wenn dem so war, dann hatten Mallory und Irvine die größte Hürde hinter sich gebracht. Die zweite Stufe ist ein 25 bis 30 Meter hoher Felsbuckel, den man entweder erklettern oder weiträumig umgehen muss. Für die letzte Variante reichte den beiden aber die Zeit nicht.
Blieb also nur, die Stufe zu erklettern. Die Experten streiten, ob Mallory und Irvine dazu überhaupt fähig waren. Vor allem die letzten fünf bis sechs Meter, die senkrecht abfallen und kaum Möglichkeiten bieten, Halt zu finden, gehören zu den höchsten Schwierigkeitsgraden am Berg. Conrad Anker schaffte es 1999, die Stufe weitgehend frei kletternd zu meistern. Danach sagte er: "Mallory und Irvine waren nicht oben." Zur gleichen Überzeugung gelangte vorher auch Reinhold Messner. Chinesen hatten 1975 im letzten Stück eine Aluminiumleiter verankert, die von da an als Kletterhilfe benutzt wurde.

Kein Spinner

Auch Odell kamen später Zweifel. Möglicherweise hatte er sich in der Stufe geirrt. "Ich wusste nicht genau, ob ich diese Stufe oder die zweite Stufe vor mir hatte." In der Nähe der ersten Stufe waren der Eispickel und später eine alte Sauerstoffflasche gefunden worden. Mallory hatte sich entgegen früheren Überzeugungen entschlossen, auf die Atemhilfe zu bauen. Der begnadete Tüftler Irvine verstand es, die anfällige Apparatur in Gang zu halten und zu verbessern - der Hauptgrund, warum Mallory ihn mitgenommen hatte. Allerdings war der 22-Jährige als Bergsteiger unerfahren - er hatte nur ein paar leichte Zweitausender in den Alpen bestiegen - und beim Gipfelversuch gesundheitlich angeschlagen. 
Mallorys Qualitäten waren dagegen damals über fast jeden Zweifel erhaben. Zeitgenossen bezeichneten ihn als "Galahad", der "merkurgleich" über Gebirgsketten rannte, "ritterlich, unbezähmbar". Und er war vom Everest besessen. Verbrieft ist seine Aussage: "Ich kann mir kaum vorstellen, nicht hinaufzukommen; unmöglich auch, mich in die Rolle des Besiegten zu fügen." Der 38-Jährige war kein Spinner. Er war Akademiker, ausgebildeter Lehrer und in jeder Hinsicht belesen. Er bewegte sich unter berühmten Literaten und schrieb selbst Essays. Sollte Mallory wirklich die zweite Stufe erklettert haben, muss ihm klar gewesen sein, dass dies für Irvine unmöglich war. Oder raubte ihm die Höhe die Sinne?
Die Theorie, Mallory könnte allein weitergegangen sein, wurde durch den Fund seiner Leiche entkräftet. Das um den Körper geschlungene gerissene Seil deutet auf einen gemeinsamen Sturz. Plausibel: Beide erkannten, dass ein Weitergehen unmöglich war, kehrten um und stürzten ab. 

Wo ist die Kamera?

Doch es bleiben weitere Fragen. Warum hatte Mallory die Schneebrille in der Tasche? Vielleicht, weil es schon dunkel war, sie also auf dem Rückweg vom Gipfel waren? Vielleicht aber auch wegen des Schneesturms, der gegen 14 Uhr aufkam. In ihm irrte Odell später umher, wollte seinen Kameraden Orientierungszeichen geben. Wo ist die Kamera, die Mallory bei sich hatte? Experten sagen, ein Foto aus dieser Kamera, beispielsweise ein Gipfelfoto von Mallory, könnte heute noch entwickelt werden, wenn kein Licht eingefallen ist. Bei der Leiche wurde sie nicht gefunden. Hatte Irvine die Kamera? Er ist weiterhin verschollen. 
Der Berg wahrt vorerst sein Geheimnis. Irgendwo auf dem Everest könnte der Beweis dafür liegen, dass zumindest Mallory oben war: Ein Bild von seiner Frau, das er stets bei sich trug, das aber bisher nicht gefunden wurde. Das Bild, so erinnerte sich seine Tochter Clare, wollte er auf dem Gipfel zurücklassen, sollte er sein Ziel erreichen.inden.
 

©gerhard mertens/general-anzeiger bonn 2003 

Tausendsassa: George Leigh Mallory