Die Gans guckte nur

Bis zum Schluss des witzigen Bilderbuchs „Vom Mann und der Gans“ will der Verdacht nicht weichen, dass die entfernte Ähnlichkeit zwischen der Gans und der Ehefrau schlicht gewollt ist. „Du dumme Gans“ heißt ein Schimpfwort, das Menschen gerne Frauen anhängen. Dabei handelt die Frau in dieser Geschichte ausgesprochen klug. Sie macht nämlich, als ihr Mann mit einer Gans im Arm heimkommt, kurzerhand die Wohnungstür von draußen zu. Die Gans zieht also ein, honoriert jedoch keinen einzigen Liebesbeweis ihres Besitzers und erweist sich als dauerhaft beratungs- und bildungsresistent, ob es nun ums Zähneputzen geht oder ums Bücherlesen. „Lesen macht klug“, versucht der Mann sein Bestes. „Die Gans guckte nur“, beschreibt Max Kruse stereotyp ihre Reaktion.
Der Sohn der Puppenkünstlerin Käthe Kruse und Erfinder von „Urmel aus dem Eis“ hat mit über 80 Jahren kein Quäntchen Humor verloren. Statt dessen in Sachen Gans offenbar einen guten Draht zu seiner knapp 50 Jahre jüngeren Illustratorin gefunden. Sophie Schmid zaubert der Gans einen Ausdruck ins Gesicht, der das intellektuelle Vakuum in ihrem Hirn spiegelt. Mann und Gans gönnt sie üppige, harmonierende Konturen, die krass die fortwährende Nicht-Kommunikation des skurrilen Paares konterkarieren. Der Hintersinn dieses komischsten Bilderbuchs seit langem erschließt sich eher den Erwachsenen; den Humor aber verstehen schon Vierjährige.

Max Kruse/Sophie Schmid (Ill.:) Vom Mann und der Gans.
Verlag Sauerländer bei Patmos, Düsseldorf. 32 Seiten, 13,90 Euro

Findus kocht

Wer so viel Erfolg hat wie Sven Nordqvist mit seinem ungleichen Duo Pettersson und Findus, muss nicht ständig neue Geschichten ersinnen, sondern kann die alten recyclen. Im neuen Bilderbuch kocht der Kater unter Anleitung des Alten Alltagsleckerein aus Schweden. Die Rezepte sind einfach, vernünftig erklärt – und wenn sie dem Gaumen so schmeicheln wie Nordqvists illustratorische Detailfülle dem Auge, hat das kinderfreundliche Kochbuch seinen Zweck alle Mal erfüllt.

Sven Nordqvist: Kochen mit Pettersson und Findus. Verlag F. Oetinger, Hamburg. 64 Seiten, 12,90 Euro

Ferienträume

Bevor der Ferntourismus zu boomen begann, zogen erholungsbedürftige Familien im Urlaub aufs Land, in einfache Unterkünfte auf Bauernhöfen oder schlicht zu Verwandten. Von so einer Sommerzeit in der Kindheit erzählt Georg und gräbt anhand authentischer Fotos eine Idylle aus den Tiefen der Erinnerung, die heute kaum ein Kind mehr kennt. Eine schöne Idee, aus den Ferienträumen der 60er und 70er Jahre ein Bilder-/Fotobuch zu machen!

Hubert Schöke/Susanne Koppe: Sommerzeit in Hosenfeld.
Moritz Verlag, Frankfurt/Main. 36 Seiten, 13,80 Euro

Die Sinnfrage [nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2005]

Wolf Erlbruch arbeitet eine philosophische Frage nach der anderen für Kinder auf – mit so viel Einfühlungsvermögen für ihre Aufnahmefähigkeit, dass auch dieses Büchlein nicht das letzte seiner Art sein möge. Es dreht sich um die Frage, warum wir auf der Welt sind. Die einfachen Antworten variieren zwischen „um da zu sein, um zu bellen und Mond anzuheulen, um zu essen“ oder „um Geduld zu haben“. Weder Liebe noch Kampf kommen zu kurz, auch nicht die Ente. Die hat nämlich als einzige überhaupt keine Ahnung!

Wolf Erlbruch: Die große Frage. Peter Hammer Verlag, Wuppertal. 52 Seiten, 14,90 Euro

Nur Überleben [nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2005]

Uri Orlevs neuer Roman „Lauf, Junge, lauf“ berichtet aus der Welt der Juden in Polen nach der deutschen Besetzung. Eine Weile kann die Familie des neunjährigen Srulik noch im Ghetto ihr Überleben sichern, aber dann werden Vater, Mutter und einige der Geschwister verschleppt oder getötet – nur der kleine Srulik kann entkommen.
Er nennt sich jetzt Jurek, leugnet ein Jude zu sein und schlägt sich in den Wäldern Polens durchs Leben. Einen Juden zu verstecken ist lebensgefährlich in der damaligen Zeit. Die Deutschen setzten Prämien aus. Sie jagen die Juden, auch die jüdischen Kinder. Immer wieder muss Srulik-Jurek fliehen. Keinem kann er vertrauen. Kindheit im Krieg. Eine Abenteuergeschichte, in einer Zeit, in der Krieg und Verfolgung keinen Raum für Abenteuer ließen. Es ging nur noch ums Überleben.

Uri Orlev: Lauf, Junge, lauf. Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim/Basel. 232 Seiten, 14,90 Euro

Doppelmoral

Aufmerksamkeit gebührt auch Olaf Büttners Buch „Sommersturm“. Im Vordergrund stehen zwei markante Persönlichkeiten: Der 15-jährige Julian und seine allein stehende Tante. Mit Tante Betty zeichnet Büttner nicht gerade das Bild einer aufopfernden Pflegemutter. Tante Betty wechselt die Männer wie die Hemden, arbeitet in einer Bar, ist oft unterwegs und gilt in ihrer Familie als Hure. Doch sie zeigt Herz und gibt Julian ein Zuhause. Seine Tante Martha empört sich zwar über Bettys „skandalöses“ Leben, findet in ihrem eigenen Haus aber keinen Platz für den Jungen. Büttner führt den Lesern die Doppelmoral deutlich vor Augen und hat seinen ersten Jugendroman so packend geschrieben, dass man das Buch gar nicht weglegen kann.

Olaf Büttner: Sommersturm. Reihe Aare im Verlag Sauerländer/Patmos, Düsseldorf. 152 Seiten, 10,90 Euro

Pille im Hirn

In Ned Vizzinis Romandebüt „Cool: Und was ist mit Liebe?“ geht es fast nur um „das Eine“, vorgeführt im deftigen Jugendjargon. Im Mittelpunkt des Geschehens steht Jeremy, der unbedingt total cool werden will, um endlich Chancen bei Frauen zu haben, insbesondere bei der angebeteten Christine. Ein Sqip, ein pillenförmiger Mini-Computer, erscheint als Lösung. Kaum hat Jeremy ihn geschluckt, installiert er sich in seinem Gehirn und gibt fortan dort oben den Ton an. Mit bombastischem Erfolg.
Jeremy erlebt erotische Abenteuer, von denen er vorher kaum zu träumen wagte. Jetzt wird er zu wilden Partys mit Sex und Drogen eingeladen, tritt cool, lässig und mutig auf. Allerdings hat die Pille zwei Haken: Erstens funktioniert sie nicht bei Christine, und zweitens sind auch die Eltern von seiner Veränderung nicht begeistert. Ned Vizzini schreibt lebendig, spannend und mit blühender Fantasie. Doch die derbe Sprache ist nicht jedermanns Geschmack.

Ned Vizzini: Cool. Und was ist mit Liebe? Bertelsmann Verlag, München. 256 S., 14,90 Euro

Lauren Child: Durch und durch Clarice Bean.
Carlsen Verlag, Hamburg. 192 Seiten, 12 Euro

Clarice bringt alles auf den Punkt

Clarice Bean ist eine spritzige, freche kleine Göre mit einem großen Herzen. Vor allem aber ist ihre Clarice so ungewöhnlich wie eigentlich das ganze Buch. Allein das Layout! Da ist es durch und durch normal, wenn die Buchstaben mal groß, mal klein, eingerückt oder auch fett gedruckt in Wellenbewegungen tanzen. Oder dass der Leser das Buch erst langsam um 360 Grad drehen muss, um weiterlesen zu können. Aber das werden die jungen Leser sicherlich gerne tun.
Eigentlich ist Clarice ein ganz normales Kind mit einem Hund, lieben Eltern und ganz normalen Geschwistern. Die allerdings nerven! Zum Glück gibt es noch Betty Moody, ihre beste Freundin, mit der sie die Leidenschaft für die Buchfigur Ruby Redford teilt. Deren Krimigeschichten durchziehen das Buch und bieten den beiden wichtige Anregungen. Clarice Bean, die messerscharf kombiniert und die Dinge stets auf den Punkt bringt, muss man einfach mögen!

Dur & Moll

Ein Buch voller Liebe und Musik: Irma Krauß’ Neuerscheinung „Sonnentaube“. Die Hauptfigur Madeleine (14) fühlt sich zur Musik hingezogen. Ihre wunderschöne Stimme fasziniert Kai, den gut aussehenden Musikstudenten. Die beiden haben sich beim Gesangsunterricht kennen gelernt und sind sofort füreinander entflammt. Irma Krauß zeigt Fingerspitzengefühl für Liebesdinge. Auf ihre spezielle einfühlsame Art und Weise erzählt sie von einer jungen Liebe, von Hochgefühlen, von geweckter Leidenschaft, aber auch von Angst und Zweifeln. Am Ende spielt Madeleine sogar Schicksal. Aber Irma Krauß lässt ihre jungen Leser nicht im Moll versinken. Mit Kais Rückkehr führen zarte Modulationen zurück ins Dur und zum Hoffen auf ein wunderbares Leben.

Irma Krauß: Sonnentaube. Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim/Basel. 264 Seiten, 12,90 Euro 

©imke habegger 2004