Im Kugelstoßen siegt der Bär

Der Pinguin reist zu den Olympischen Spielen und zeigt den Menschen, was ein richtiger Schwimmer ist: Weltrekord! Goldmedaille! Weil Menschen aber sind, wie sie sind, wird ihm die Medaille wegen unerlaubter Flossen aberkannt. Da gibt es im Tierreich kein Halten mehr: Alle Tiere pilgern zu den Wettkämpfen und räumen ruckzuck sämtliche Medaillen ab. Kein einziger Mensch hat mehr eine Chance. Wer kann schon den Bären beim Kugelstoßen oder den Elefanten beim Gewichtheben schlagen? Und das Känguru boxt besser als beide Klitschkos zusammen.
Als bei den Menschen der große Frust ausbricht, entpuppt der alte Löwe sich als genialer Diplomat. Dieses bunt und hintersinnig illustrierte Bilderbuch regt  trefflich zum Nachdenken an über Rache, Selbstüberschätzung und Gerechtigkeit.

Martin Baltscheit/Christine Schwarz:
Gold für den Pinguin.
Bajazzo Verlag, Zürich. 40 Seiten, 13,80 Euro

Spiel mit Perspektiven

Hinter die Fassaden können kleine Leser schauen, wenn sie sich „Im anderen Haus“ umsehen. Die Autorin hat sich während eines Rom-Aufenthalts ihre Geschichte ausgedacht: Lissia sucht ihre Katze und streift dabei kreuz und quer durch fremde Gemäuer. Durch ein zügelloses Spiel mit Perspektiven entsteht eine verkehrte, fantastische Welt mit dubiosen, rätselhaften Bewohnern und magischen Kräften. Steinerne Köpfe beginnen zu sprechen, und Lissia kann sogar senkrecht die Wände hinauflaufen. Ein richtiges Abenteuer – Spannung garantiert!

Siglint Kessler: Im anderen Haus. Verlag Lappan, Oldenburg. 48 Seiten, 14,95 Euro

Kopf in den Wolken

Der kleine Oskar ist ein Träumer. „Nimm den Kopf aus den Wolken!“, schimpft seine Mutter, wenn er gar nicht hört, was sie ihm sagt. Die Familie fährt in Urlaub. Während all der Reisehektik und natürlich auch, weil er nicht aufpasst, steht Oskar plötzlich ganz allein in der Pampa. In seinem großen Schrecken macht er dort Bekanntschaft mit der kleinen Wolke Huu. Zunächst weinen beide um die Wette – sie regnen, wie die Wolke es nennt. Dann beginnt eine wunderbare Freundschaft, die natürlich auch nach dem Happy End noch anhält. Nur muss Oskar jetzt immer lachen, wenn jemand sagt, er trage den Kopf in den Wolken, schließlich schwebt Huu direkt über ihm. Ein ganz leises, poetisches Buch – vor allem dank der einfühlsamen Zeichnungen von Michael Dudok de Wit, der es schafft, mit einer Hand voll Strichen atmosphärisch dichte Landschaften zu zaubern.

Theo/Michael Dudok de Wit (Ill.): Oskar und Huu. Verlag Sauerländer/Patmos, Düsseldorf. 32 S., 13,90 Euro

Dame in Rot

Frau Bund und ihr Hund leben zurückgezogen, ein wenig einsam, aber sehr friedlich zusammen, bis eine langwimprige Hundedame in Rot beider Leben gründlich durcheinander wirbelt. Der Hund haut mit seiner Flamme ab, Frau Bund sucht Trost bei Herrn Fröhlich – und als wieder Frieden einkehrt, haben je zwei Herzen sich gefunden. Helga Bansch kommt mit ganz knappen Texten aus, aber in ihren episodischen Zeichnungen lässt sich schmökern wie in Romanen.

Helga Bansch: Frau Bund und Hund. Verlag Jungbrunnen, Wien. 32 Seiten, 13,40 Euro

Ein ganz besonderer Bär

Eine Pille, die Selbstvertrauen schenkt, gibt es nicht, wohl aber ein handliches Büchlein – mit garantierter Wirkung. Unter dem knappen Titel „Ich“ lenkt Philip Waechter die Aufmerksamkeit des Betrachters auf ein ganzes Bärenleben. Schon ein besonderer Bär: schön, gepflegt, stark, schlau und mutig. Zuversichtlich, hilfsbereit und (fast) ohne Angst. Aber wie sich zeigt, braucht auch dieses Wunder an guten Eigenschaften hin und wieder ein Regulativ und eine starke Schulter zum Anlehnen. Empfehlenswert!

Philip Waechter: Ich. Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim. 64 Seiten, 9,90 Euro

Vom Sandmännchen und Westpaketen

Wie war eigentlich die DDR? Wer nach dem Mauerfall geboren ist, weiß oft viel zu wenig von der deutschen Republik im Osten, von ihren Strukturen und dem Alltagsgeschehen. Abhilfe schafft ein gelungener kleiner Band, der anschaulich, persönlich und für jeden verständlich schildert, was den einstigen Arbeiter- und Bauernstaat anfangs zusammenhielt und später ins Fiasko trieb. Susanne Fritsche wendet sich gegen das Vergessen und erzählt nicht nur von Wahlen und Wirtschaftsplänen, sondern auch vom Sandmännchen und den Thälmannpionieren, von Mangelware, Westpaketen und der Timurhilfe. Ein wertvolles kleines Geschichtsbuch!

Susanne Fritsche: Die Mauer ist gefallen. Carl Hanser Verlag, München. 152 Seiten, 14,90 Euro

Schweigen in Schweden

Krimifreaks haben sicherlich schon sehnsüchtig darauf gewartet: Mats Wahls Star-Kommissar Harald Fors ermittelt wieder. Wie in seinem ersten Fall, in dem Roman „Der Unsichtbare“, deutet zunächst alles darauf hin, dass der junge Achmed Sirr Opfer von ausländerfeindlichen Jugendlichen wurde. Aber es gibt auch andere Motive in dem Roman „Kaltes Schweigen“. Der 17-jährige Sirr war alles andere als ein angenehmer Zeitgenosse. Er dealte mit Rauschgift, besaß Waffen und erpresste seine Mitschüler. Schließlich brennt kurz vor Weihnachten sogar noch eine Kirche. Insgesamt also ein mysteriöser Fall, der nicht leicht zu lösen scheint, denn niemand traut sich, über Sirr zu sprechen. Kaltes Schweigen eben.
Und es bleibt eisig in der schwedischen Stadt, in der Jugendliche verzweifelt nach Leitbildern suchen, um nicht am Leben zu zerbrechen: Drogenabhängige, Neonazis und Jugendliche, die mit Gott hadern, unterschiedlichste Typen, die Wahl präzise zeichnet. Während der zähen Ermittlungen entsteht dabei ganz beiläufig auch ein Mosaik der schwedischen Gesellschaft, wie man es von Wahl schon kennt. Doch der Kommissar löst er natürlich auch diesen Fall. Mats Wahl erhöht mit Anspielungen die Spannung und hält bis zum Schluss eine Fülle überraschender Wendungen parat.

Mats Wahl: Kaltes Schweigen. Hanser Verlag, München. 265 Seiten, 16,90 Euro

Deborah Froese: In meiner Haut. Beltz Verlag, Weinheim. 328 Seiten, 14,90 Euro

Im Sog der Meute [nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2005]

Dayle hat bei einer Sommerfete schwerste Verbrennungen erlitten. Sie ist das Opfer einer Explosion, der leichtsinnigen Tat eines angetrunkenen Jugendlichen. Dabei sollte alles so schön werden an Dayles Geburtstag, der gleichzeitig der Tag ist, an dem sie Keith kennen gelernt hat. Seit sie mit ihm geht, ist sie völlig verändert. Mit Keith ist in ihr eine unbändige Sehnsucht nach einem aufregenden Leben entbrannt. Ein Leben, in dem ihre beste Freundin Amy kaum noch Platz findet. Amys Warnungen zum Trotz gerät das verliebte, lebenshungrige Mädchen in den Sog einer vergnügungssüchtigen und grölenden Meute, die sie beinahe in den Abgrund zieht. 
Der 1957 in Kanada geborenen Autorin Deborah Froese gelingt gleich in ihrem ersten Roman ein kleines Meisterstück. Mit den Nahtoderfahrungen, den Rückblenden im Morphiumnebel und den Kraft gebenden Zwiegesprächen mit der verstorbenen Großmutter entwickelt Froese ein intensives Bild eines jungen Mädchens. Es geht um Tod, um Schuld, Wut- und Hassgefühle, um unsägliche Schmerzen und um Entstellung. Aber auch darum, Verantwortung zu übernehmen.

Familiengeheimnis

Den Weg zu sich selbst, zu ihrer Leidenschaft und zu ihrer Bestimmung muss die 13-jährige Antonia finden. Sie ist die Hauptfigur in Ulrike Kuckeros Jugendroman „Das Ende der Stille“. Kuckero nimmt die Leser mit in eine faszinierende Welt der Klänge, die durch ein düsteres Geheimnis beinahe erstickt werden. Antonia ist es nämlich nicht vergönnt, Musik zu hören, geschweige zu spielen, weil ihre Mutter das nicht duldet. Doch seit Antonia das Klavier in Großmutters Haus entdeckt hat, wird sie von der Kraft der Töne getrieben. Heimlich nimmt sie Klavierunterricht. Irgendwann durchbricht sie das eisige Schweigen und entdeckt das Familiengeheimnis. Kuckeros packendes und spannendes Buch enthält viele tragische Elemente, doch daraus wächst keine Elegie.

Ulrike Kuckero: Das Ende der Stille. Thienemann Verlag, Stuttgart. 224 Seiten, 13,90 Euro

Franziska Groszer: Claire und Sophie. Dressler Verlag, Hamburg. 208 Seiten, 12 Euro

Verlust und Ausweg

Von Tod, Trauerverarbeitung, Angst, Einsamkeit und Identitätsfindung handelt der Roman „Claire und Sophie“. Die 15-jährige Claire und die 24-jährige Sophie sind Schwestern, die sich nach dem Tod ihrer Mutter auf die Suche nach der Vergangenheit begeben. Sie verlassen ihre Wohngemeinschaft in Ostberlin, der Heimat ihrer Eltern und ziehen zurück in ihr altes Haus im Wendland, in dem sie nach der Wende mit der Mutter gelebt haben. Es ist ein schmerzvolles Aufspüren ihrer Wurzeln, eine mühselige Aufarbeitung, der Versuch, wieder eine Zukunft zu finden, vielleicht in Ostberlin, wo ihre Familiengeschichte begann und von wo sie als Staatsfeinde in den Westen abgeschoben wurden.
Franziska Groszers Jugendroman ist eine Geschichte voller Brüche. Ehescheidung der Eltern, Verlust der Heimat, der neue Osten, Verlust von Freundschaft, schließlich auch der Verlust der Mutter. Auf anrührend-unaufdringliche und poetisch überzeugende Weise arbeitet die Autorin die Entwicklung der beiden Mädchen heraus, die am Ende ihren Weg finden.

©imke habegger 2004