Erika lebt!

"Irgendwann während des Jahres 1944 wurde ich geboren. Erika heiße ich, weil die Frau, die mich aufzog, mir diesen Namen gegeben hat. Ich kenne weder mein Geburtsdatum noch meinen Geburtsnamen. Ich weiß nicht, in welcher Stadt oder in welchem Land ich geboren wurde. Was ich weiß, ist, dass ich nur wenige Monate alt war, als ich vor dem Holocaust gerettet wurde." So beginnt die Geschichte, die die mittlerweile fast Sechzigjährige 1995 in Rothenburg ob der Tauber ihrer Tochter erzählt. Es ist eine zufällige Bekanntschaft, die die Lehrerin und Journalistin Ruth Vander Zee zu einem eindrucksvollen Bilderbuch inspiriert, in dem sie Erikas Lebensweg nacherzählt – so wie es gewesen sein könnte. Wie man ihrer Familie alles genommen hat, sie in ein Ghetto umsiedelte, sie mit Hunderten von Juden zum Bahnhof trieb und in einen Viehwagen pferchte, der sie in ein Lager bringen sollte. Wie mögen sie sich gefühlt haben? Erika weiß: Sie wird niemals eine Antwort erhalten. Was sie aber mit Sicherheit weiß ist, das ihre Mutter auf ihrer Fahrt in den Tod ihr kleines Mädchen aus dem Zug warf und ihr damit das Leben schenkte. Ruth Vander Zee erzählt „Erikas Geschichte“ mit Behutsamkeit und großem Einfühlungsvermögen. Auch die Bildsprache bedient sich der nötigen Zurückhaltung. Die Gesichter sind verhüllt oder gar nicht erst zu sehen. Roberto Innocenti braucht keine grausamen Darstellungen. Die Stacheldrahtzäune, die gebeugten Menschen, die Tristesse, die sich im Graubraun der Illustrationen widerspiegelt, führt auch so die ganze Ungeheuerlichkeit vor Augen. Bleibt zu fragen, wie Kinder dies ertragen können? Die letzten beiden bunt gestalteten seiten geben Antwort. Erika lebt. Ihr Baum hat wieder Wurzeln und ihr Stern leuchtet noch immer. 

Ruth Vander Zee: Erikas Geschichte.
Sauerländer Verlag, Düsseldorf, 24 Seiten, 16,90 Euro (ab 6)


Das kurze Leben der kleinen Hana

Eine bewegende Reise in die Vergangenheit unternimmt die kanadische Journalistin Karen Levine mit ihrer Dokumentation „Hanas Koffer“. Erzählt wird das Schicksal des jüdischen Mädchens Hana, das 1931 in der Tschechoslowakei zur Welt kommt und 1944 in Ausschwitz vergast wird. Es ist eine wahre Geschichte. Dass sie ans Licht kommt, ist das Verdienst der Leiterin des Holocaustmuseums in Tokio, Fumiko Ishioka. Sie erhält im Winter 2000 einen Koffer mit der Aufschrift „Hana Brady, 16. Mai 1931, Waisenkind“, der eine besondere Faszination auf sie ausübt. Zusätzlich motiviert durch die vielen Fragen der japanischen Kinder beginnt sie zu forschen. Nach und nach erhellt sich das kurze Leben der kleinen Hana. Fumiko findet Zeichnungen, Fotos und schließlich Hanas älteren Bruder, der den Holocaust überlebt hat und seit Kriegsende in Kanada lebt. Das interessante Buch, das Geschichte erfahrbar macht, beleuchtet den Holocaust aus der Sicht der Kinder. Es geht darum zu zeigen, was Vorurteile und Hass anzurichten vermögen, und zu lernen, dass Kinder etwas gegen Rassismus und Intoleranz tun können.

Karen Levine: Hanas Koffer. 
Ravensburger Verlag, 144 Seiten, 9,95 Euro (ab 10)


Verrat und Flucht

Die jüdische Schriftstellerin Waldtraut Lewin ist 1937 in Ostdeutschland geboren. Sie fühlt sich der jüdischen Tradition stark verbunden, was auch ihre Bücher beeinflusst. „Mond über Marrakesch“ heißt der fesselnde Jugendroman zum Thema Holocaust. Die Heldin dieser fiktiven Geschichte, die 1940 in Berlin beginnt, ist die 16-jährige Halbjüdin Rita, die miterleben muss, wie ihre geliebte jüdische Stiefmutter von den Nazis abgeholt wird, weil der Vater sich scheiden lässt und die Mutter an die Nazis verrät. Noch genießt Rita den Schutz ihres arischen Vaters, der sie zu sich in die Schweiz holen möchte. Aber Rita hasst ihn, den Verräter, und entscheidet sich für die Flucht. Ihr Ziel heißt Marrakesch, ein Ort, der Glück und Frieden verheißt, wohin sich schon einige ihrer Freunde gerettet haben. Auf einer abenteuerlichen Irrfahrt durch das besetzte Frankreich lernt sie den wesentlich älteren und kranken Gabriel kennen. Rita verliebt sich in ihn. Wer jetzt ein Happyend erwartet, wird enttäuscht. Gabriel stirbt. Nur Rita, die inzwischen ein Kind von ihm erwartet, erreicht Marrakesch. Damit ist das spannende Buch, aber nicht die Geschichte zu Ende. Waldtraut Lewin plant einen Fortsetzungsroman. 

Waldtraud Lewin: Mond über Marrakesch.
Ravensburger Verlag, 288 Seiten, 13,95 Euro (junge Erwachsene)


Witzig und frech

Das Mädchen ist zehn Jahre alt. Am liebsten mag es Horrorfilme, aber noch lieber wäre es mit seiner Mutter zusammen. Doch das geht nicht, weil die hübsche Mutter wahrscheinlich weit weg in Hollywood lebt und dort als berühmter Filmstar arbeitet. So jedenfalls stellt es sich Tracy Baker in ihren Träumen vor, wenn sie im Kinderheim Wochenende für Wochenende vergeblich auf ihren Besuch wartet. Aber Tracy Baker lässt sich so schnell nicht unterkriegen. Jaqueline Wilsons starke Mädchenfigur packt das Schicksal eben bei den Hörnern, frech, lebensfroh und mit der nötigen Portion Mut. Wilsons Kinderbuch bietet alles andere als eine sentimentale und rührselige Geschichte. Die Autorin schreibt in einer unverwechselbar witzigen Ausdrucksweise. Schnoddrig, frech und zugleich warmherzig ist ihr Ton, mit dem sie in ihrem Heimatland England die Herzen der Kinder bereits im Sturm erobert hat. Auch wenn dem erwachsenen Leser so manches Mal das Lachen im Halse stecken bleibt, werden die Kinder sich über Tracys Mutproben und die witzigen Illustrationen köstlich amüsieren. 

Jacqueline Wilson: Die unglaubliche Geschichte der Tracy Baker.
Oetinger Verlag, Hamburg, 144 Seiten, 9,90 Euro (ab 10)
Im Frühjahr 2004 erscheint: Jacqueline Wilson: Tracy Baker ist unschlagbar
Oetinger Verlag, Hamburg, 144 Seiten, 9,90 Euro (ab 10)


©imke habegger 2003