Wenn sanft die Spinne aus der Wange krabbelt

Moderne Sagen als Ventil für die Unwägbarkeiten des Lebens

Am Biertisch wird es still in der Runde. Ein junger Mann erzählt von der Bekannten eines Bekannten, die mit einer Gruppe von Aussteigern nach Indien gefahren war. "Also, die gehörte zu diesen alternativen Kreisen, kam aus Indien zurück, hatte fürchterliche Schmerzen in der Wange - und die war unheimlich dick und heiß und rot geschwollen, und nach einigen Tagen hier zu Hause, da ist das dann irgendwie aufgeplatzt, und es kamen ganz viele Spinnen da 'raus."

Igittegitt. Jeder in der Runde schüttelt sich vor Ekel. Ein blondes Mädchen erschauert kurz und berichtet dann von einer ähnlichen Begebenheit - von einer Mutter, die ihrem Kind die geschwollene Backe abtupft. "Und auf einmal platzt das auf, und da kommen dann die Spinnen 'raus." Mutter wie Indienreisende kamen angeblich mit schwerem Schock ins Krankenhaus.

Blödsinn! Denkt der aufgeklärte Skeptiker von heute. Niemand würde so etwas glauben! Er irrt! In diesen modernen Zeiten kursieren unendlich viele unglaubliche Geschichten. Sagen von heute. Der Alltag steckt voller Bedrohungen, Gefahren und Geheimnisse, konfrontiert mit unheimlichen Menschen, fremdländischen Sitten, unbekannten Tieren, Krankheiten und den Tücken der Hochtechnisierung. Die Massenmedien oder auch das Internet rücken eine immer weitere Welt in immer größere Nähe - und beflügeln damit auch die Fantasie. Unverändert teilen Menschen einander mit, was sie erlebt haben, wenn es auch nicht immer die ganze Wahrheit ist: Sie schönen und verbrämen, übertreiben und flunkern, lassen weg und dichten hinzu. Spiegelbild einer Volkskultur, die in kurzen Augenblicken lebt.

Der Germanist und Erzählforscher Helmut Fischer aus Hennef/Sieg hat solche Augenblicke festgehalten. Zwischen 1975 und 1990 hat er in Stadt und Land an Rhein und Ruhr dem Volk aufs Maul geschaut, sprich: den Kassettenrekorder in Wohnzimmern, Partykellern, Kneipen, Wartezimmern und Büros mitlaufen lassen. Dem "gelegentlich lästigen Gast" gelang eine außergewöhnliche Sammlung alltäglichen Erzählgutes. Fischer schrieb die Geschichten auf, wie sie formuliert worden waren, und hat damit ein wertvolles Dokument moderner Alltagskultur geschaffen. Hinter dem Titel "Der Rattenhund - Sagen der Gegenwart" verbergen sich haarsträubende, gruselige, tragische und witzige Begebenheiten; einige davon hat jeder von uns mit Sicherheit schon einmal irgendwo gehört. Fischers Forschung hat mit dem Klischee aufgeräumt, dass die Fabulierer und Geschichtenerzähler ausgestorben seien, weil der Mensch von heute in einer passiven Konsumentenrolle erstarrt. Nein! Wir sind nicht stumm geworden.

Wie Erzählungen und Medien korrelieren, zeigt eine Begebenheit, die 1982 in Essen erzählt wurde und vorher lange durch den Medienwald gerauscht war: Der unsichtbare "Chopper" hatte ahnungslose Patienten eines Regensburger Zahnarztes aus dem Spuckbecken angepöbelt. Ein erklärbarer, inszenierter Spaß, wie sich später herausstellte. Einer hat's erlebt und weitererzählt, ein Reporter bekam Wind davon, dann stand es in der Zeitung. So ähnlich mag es auch mit der "Schwarzen Frau" gewesen sein, die zwischen Rosenheim und Salzburg ihr Unwesen trieb, ganze Dörfer verunsicherte und durch Polizeiprotokolle und Medien geisterte. Sie wurde von Autofahrern mitgenommen, prophezeihte einen "blutigen Herbst", gab sich als der Erzengel Gabriel aus, war gelegentlich auch ein Mann oder verhinderte durch Vorwarnung tödliche Unfälle. Um Unfallopfer, die aus dem Jenseits erscheinen und als Schutzengel Autofahrer vor Unglück bewahren, ranken sich unzählige Versionen, "Geschichten vom verschwundenen Anhalter". Hier wird das Merkmal der Sage deutlich: Unausgesprochen verbindet sich mit der Erscheinung die Warnung vor der Gefährlichkeit des Autofahrens. Der Mensch findet sich im High-Tech-Alltag nicht zurecht und meistert Bedrohung und Gefahr, indem er sie verdrängt. Wie könnten die Menschen sich seelenruhig ans Steuer ihrer Autos setzen, wenn der Verstand ihnen unablässig zufunkte, dass sie damit ein Mordinstrument in der Hand haben? Sie gehen also davon aus, dass nichts passieren wird. Geschichten wie die von der Wiedergängerin in Schwarz oder neuerdings auch wieder von Hexen, die angeblich bewirken, dass einer sich zu Tode fährt, wirken wie ein Ventil für die Unwägbarkeiten des Lebens.

Zur Angst vor dem Tod gehört auch die Angst vor Vergiftungen. Eine Geschichte dazu: Eine Familie lädt eine ganze Reihe von Gästen zum Abendessen ein. Der Clou des Dinners soll ein großer Lachs sein, den die Hausfrau kauft und anrichtet. Sie deckt den Tisch, stellt die Platte mit dem Lachs darauf und sieht nach einer Weile, dass ihre Katze von dem Lachs nascht. Großes Hallo, die Katze wird hinausgeworfen, die abgenagte Stelle kaschiert. Die Gäste kommen, essen und trinken bis tief in die Nacht. Als die Frau den letzten Gast an der Haustür verabschiedet, sieht sie die Katze draußen liegen: tot. Der Lachs war vergiftet, erkennt die Hausfrau und informiert in heller Panik alle Gäste, sie sollten sich den Magen auspumpen lassen. Als sie sich um die tote Katze kümmern will, die immer noch vor der Tür liegt, findet sie neben dem Tier einen Zettel: "Tut mit leid!" steht drauf, "ich habe Ihre Katze überfahren, als sie über die Straße gegangen ist."

Der Rattenzahn in der Pizza, die Spinne in der Yukkapalme oder das Hundefutter im China-Restaurant: Hinter solchen Erzählungen verbirgt sich eine tiefverwurzelte, halb unbewusste Angst vor Einflüssen aus fremden Ländern und Kulturen. Paradebeispiel ist der "Rattenhund". 35 plus x Versionen gibt es von dieser Geschichte! Inhalt: Jemand bringt aus dem Ausland einen kleinen zugelaufenen Hund mit. Der bellt nicht, ist ganz lieb, frisst aber lebende Katzen. Tierarzt oder Zoodirektor stellen dann fest: "Das Hündchen" ist eine Riesen-(Beutel-, Wüsten-)Ratte. Die Geschichte eignet sich ideal zum Erzählen, weil sie den Bedürfnissen des Erzählers und Zuhörers gleichermaßen entgegenkommt. Während der eine in weniger als einer Minute die Fakten auf den Tisch legt, dichtet der andere nette Einzelheiten hinzu und hält seine Zuhörer fünf- bis zehnmal so lange in Atem. Die Vielfalt der Versionen veranschaulicht die Erzählkultur, die individuelle Ausschmückung offenbart Aufschlussreiches über den Erzähler. Der Traumurlaub, die von allen ersehnte "schönste Zeit des Jahres" - und doch kein ungetrübtes Glück, weil voller Gefahren. Das Gefährliche erschleicht sich die Zuneigung durch Verstellen, um dann umso nachhaltiger den Menschen in Schrecken zu setzen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

The spider's got ya!