«Schafsköpfe, allesamt»

Viele Jahre stand Reinhold Messner am Abgrund: Er soll seinen Bruder im Eis zurückgelassen haben. Nun wurde die Leiche gefunden – auf der «richtigen» Seite

Herr Messner, diesen Sommer, nach 35 Jahren, wurde die Leiche Ihres Bruders gefunden. Was überwiegt: Trauer? Wut? Genugtuung?

Für mich war es keine Überraschung, meinen Bruder auf der Diamir-Seite des Nanga Parbat zu finden, dort, wo wir 1970 zusammen abgestiegen sind. Das nur vorweg. Aber zu Ihrer Frage: Es war sicher eine Erleichterung, mehr noch als eine Genugtuung, nach so vielen Jahren meinen Bruder wieder gefunden zu haben und all jene Lügen zu strafen, die behaupteten, ich hätte ihn auf der anderen Seite des Berges im Stich gelassen, um meinen Ehrgeiz zu stillen. Zumindest für die Familie – für mich, meine Geschwister, meine Eltern – schließt sich ein Kreis. Günther war 24 Jahre alt, als er mit mir den Nanga Parbat in Pakistan bestieg und beim Abstieg verunglückte. Es ist schwer, zu akzeptieren, einen Sohn, einen Bruder irgendwo zwischen Schnee und Eis zu verlieren ohne Möglichkeit, von ihm Abschied zu nehmen.

Der Kopf Ihres Bruders wurde nicht gefunden, dennoch waren Sie sich von Anfang an sicher, dass die Leichenteile jene Günthers sind. Wieso?

Die Leichenteile waren auf etwa acht Quadratmeter verteilt. Nur Knochen. Der Kopf muss vorher abgerissen sein. Es sind gewaltige Kräfte, die im Gletscher wirken. Im Eis hat es viele Löcher und Bäche, vielleicht ist er weiter getragen worden. Es war ein Glück, dass ein Fuß von Günther noch im Schuh steckte, den der Gletscher jetzt freigegeben hat. Ein Stückchen Gewebe davon reichte für eine DNA-Analyse, die ich habe durchführen lassen. Aber auch ohne diesen Test wusste ich, dass es sich bei den Leichenteilen um meinen Bruder handeln musste. Die Schuhe, die wir 1970 trugen, waren dreischichtig, niemand sonst hatte damals diesen Schuhtyp, nur wir. Dazu eine Schlaufe am Schuh – genau so, wie Günther sie jeweils getragen hatte.

Die DNA-Analyse vom vergangenen Oktober gibt Ihnen Recht. Und doch geht der Streit mit Ihren damaligen Gefährten weiter. Wieso?

Nein, der Streit geht nicht weiter. Denn ich antworte nicht mehr auf Lügen und neue Vorwürfe. Im Wesentlichen ging es ja um die Frage, auf welcher Seite mein Bruder damals verschollen geblieben ist. Ich habe immer gesagt, dass ich Günther nicht im Stich gelassen habe. Als wir den Gipfel des Nanga Parbat erreicht hatten, stiegen wir auf der anderen, auf der Diamir-Seite, gemeinsam ab. Meine Kritiker behaupten, ich hätte Günther zurückgelassen und ihn angehalten, auf der Aufstiegsroute alleine wieder hinunterzugehen, wo er dann abgestürzt sei. Wenn Günthers Leiche dereinst auf der Diamir-Seite gefunden werde, so meine Kritiker, könne man sie alle als «Schafsköpfe» bezeichnen. Nun, mein Bruder wurde im Diamir-Tal, auf «meiner» Bergseite also, gefunden.

Womit wir ein paar Experten ungestraft Schafsköpfe nennen dürfen.

Genau. Schafsköpfe, allesamt! Auch die Nachplapperer, die die Sache verbreitet haben.

Am Nanga Parbat, 8126 Meter hoch, begann Ihre Weltkarriere, zugleich ist der Berg für Ihre größte Tragödie verantwortlich. Nie bereut, bei der Expedition teilgenommen zu haben?

Erstens stimmt es nicht, dass meine Weltkarriere dort begann. Es war vom Technischen her zwar sicher der schwierigste Berg, den ich je bezwungen habe, aber internationale Anerkennung bekam ich erst ein paar Jahre später, mit der Besteigung des Mount Everest. Zweitens: Der Berg ist nie verantwortlich für eine Tragödie. Ob ich die Expedition bereue? Hätte ich gewusst, was passiert, wäre ich nicht mitgegangen. Aber ich mache mir nicht solche Gedanken. Man weiß nie, was passiert, wenn man zu einer Expedition aufbricht. Im Nachhinein darüber hadern bringt nichts.

Das Extreme beim Extrembergsteigen, könnte man meinen, sind die Gefühle: Missgunst, Neid, Hass. Liegen wir ganz falsch?

Die Gefühle, die zu den Achttausendern gehören, sind sicher stark, aber nicht nur im negativen Sinn. Tatsache ist, dass man in einer Extremsituation letztlich immer auf sich alleine gestellt ist. Die Qualität eines erfolgreichen Bergsteigers ist, banal gesagt, die Fähigkeit zu überleben. Nur wer überlebt, ist erfolgreich. Was andere hinterher dazu erfinden, ist oft lächerlich.

Walter Bonatti, der bei der K2-Expedition vor über fünfzig Jahren dabei war, kämpft heute noch um Ehre und Anerkennung.

Ohne Walter Bonatti wäre die italienische K2-Expedition 1954 gescheitert. Er hat sein Leben riskiert, um seinen Kameraden zu helfen. Er wurde im Stich gelassen und musste ohne Schutz, auf 8100 Metern, eine Nacht ausharren. Dass er überlebt hat, ist ein Wunder. Die Wahrheit wird sich durchsetzen. Bei Bonatti, bei mir, bei anderen.

Die Urangst vor dem Wasser soll Sie auf die Berge getrieben haben. Eine Legende?

Ich kann tatsächlich nicht schwimmen. In den Dolomiten, wo ich aufgewachsen bin, gab es keine Möglichkeiten, es zu lernen. Wenn ich im Himalaja einen Bach überqueren muss, kann das schon mal zum gefährlichsten Teil einer Expedition gehören.

© Die Weltwoche/Walter De Gregorio, Dezember 2005

Reinhold Messner, 61, ist einer der erfolgreichsten Bergsteiger aller Zeiten. Er hat alle 14 Achttausender bestiegen. 1970 verunglückte sein Bruder Günther bei einer gemeinsamen Expedition am Nanga Parbat, Pakistan.