Ohne Zahl keine Wahl

Die Tücken der schönen neuen Kommunikation

Das Internet wächst und weckt in immer mehr Menschen den Wunsch, teilzuhaben an der virtuellen Zauberwelt der Informationen, Bilder und Klänge. Auch die E-Mail steht hoch im Kurs, genauso wie der "Chat", die Plauderei mit Unbekannten in virtuellen Gesprächsecken. Etwa acht Millionen Deutsche besitzen einen Rechner, mit dem sie sich ins Internet einwählen können. Experten rechnen damit, dass in zwei Jahren schon 22 Millionen durchs Web surfen werden. Entsprechend steigen die Verkaufszahlen für die Hardware.

Auch im Geschäft mit den Mobiltelefonen, in der neuen Generation auch E-Mail- und Internet-fähig, sollen die Kassen ordentlich klingeln. Die Preise sind günstig wie nie, seit auf dem Elektronikmarkt erbittert der Konkurrenzkampf ausgetragen wird. Wer sich für die Anforderungen des angebrochenen Informationszeitalters rüsten will, braucht moderne Kommunikationsmittel, globale Vernetzung und Liebe zum technischen Detail. Zum Speichern der Datenflut reicht das Gehirn nicht mehr aus, mindestens eine Festplatte oder Chipkarte muss da schon helfen. Und: Nicht erreichbar zu sein, ist kurz vor dem Jahrtausendwechsel die Horrorvorstellung schlechthin.

Allerdings machen sich bei denen, die schon früh auf die Segnungen der totalen Kommunikation gesetzt haben, bereits erste Abnutzungserscheinungen bemerkbar. Und daran lässt sich ablesen, was allen bald blüht. Dass ein Angestellter in der Software-Branche dreimal die Firma, aber nicht ein einziges Mal seinen Schreibtisch wechselt, mag ja noch unter einem gewissen Komfort abzubuchen sein. Dass er seinen PC-Arbeitsplatz immer öfter nur im Dunkeln betritt und verlässt - auch im Sommer - erscheint da schon bedenklicher. Zum Trost besitzt er ein individuell konfigurierbares Programm, das ihm die Anzahl der Tage bis zum Ruhestand berechnet. Seine Kinder erkennt er an den Fotos auf seiner privaten Homepage im Intranet, seinen Urlaub bucht er online auf der Internetseite des Reiseanbieters - und dort schaut er sich dann auch hinterher an, wo er gewesen ist, weil am Strand immer das Laptop dabei war und keine Zeit für reale Ausflüge blieb.

Ausgesprochen lästig sind die vielen kryptischen Zahlenkombinationen, die bald jeder auseinanderhalten muss: PIN-Nummer für Telefon und Handy, und Passworte ohne Ende: für den PC, für die Anbieter von Online-Diensten oder Netzzugängen, für das Homebanking-Programm und die Einwahl bei der Bank. Hinzu kommen die Geheimnummer der Scheckkarte und Telefonnummern ohne Ende. Früher hatte eine Familie mit drei Kindern eine Nummer. Und wenn keiner den Hörer abnahm, war eben keiner da. Heute gibt niemand nach nur einem Versuch auf und spricht allenfalls im Notfall mit dem Telefonknecht. Ein Familienvater muss an die zehn Nummern parat haben, wenn er Frau und Kinder erreichen will - da sind die Fax-Nummern noch nicht eingerechnet.

In herkömmlichen Adressbüchern reicht der vorgedruckte Platz schon lange nicht mehr für den kompletten Zahlen-Salat. Aber niemand macht sich die Mühe, das Design zu aktualisieren, weil Adressprofile künftig ohnehin nur noch im PC, Handy oder Laptop gespeichert werden. Bei Rechnerabstürzen oder sonstigen Defekten steigt dann die Selbstmordrate, weil niemand mehr irgendetwas auswendig kennt - und in der abrupt einbrechenden Isolation sofort verzweifelt.

Längst hat die Internetgeneration einen Kontrapunkt zur Übermacht der vielstelligen Zahlen gesetzt: Sie schreibt wieder. Nein, nicht mit der Hand und schon gar nicht via Schneckenpost. (Wo man Briefmarken kaufen kann, haben wir vor kurzem noch gewusst!) E-Mail heißt das Zauberwort der späten 90er. Nicht nur Geschäftsmitteilungen, nein, private Plauderei wird als Bit-Bündelung durch Glasfaserleitungen gejagt, mit teils bedenklicher Orthografie, aber mit Leidenschaft und pfeilschnell. Man weiß alles vom Mailfreund aus Sydney und vom Chatpartner aus Buenos Aires - aber nichts von der Nachbarin, denn mit der hat man seit Wochen kein Wort mehr gewechselt. Auch der Kontakt zu Freunden schwächt sich zusehends ab, wenn sie (noch) keine E-Mail-Adresse besitzen.

Der karrierebewusste Städter ist up-to-date, wenn sein Handy im Minutentakt vibriert (Gedudel ist längst out) und seine Mailbox überläuft. Und wenn dort Leere gähnt, schickt er sich selber ein paar Zeilen - ein bisschen Ansprache muss sein. Aber Reden ist lästig, wenn der Rechner läuft. Deswegen verabredet er sich auch mit Kollegen an benachbarten Schreibtischen per E-Mail zum Bierchen nach Feierabend. Dann wird tatsächlich gesprochen - am liebsten über die Favoritenliste der Internetadressen und wie man Passworte vor Hackern schützt.

Falls er zu Hause dann noch Hunger verspürt, kommt Fast Food aus der Tiefkühltruhe in den Mikrowellenherd. Und nun steht er vor dem ultimativen Stress-Test: Wenn er jetzt versucht, am Mikrowellenherd sein PC-Passwort einzugeben, wird es Zeit, einfach mal angeln zu gehen. Oder wandern.

Ihr wisst nicht, was das ist? Schaut doch mal ins Internet!